Belletristik
Gabriella Zalapì
Antonia. Tagebuch 1965–1966
Übersetzung aus dem Französischen von Claudia Steinitz
In der Luft liegt ein Leben, ergreifen oder verzichten? Gabriella Zalapìs "Antonia" verknüpft eine atemberaubende Familiengeschichte mit der Selbstbehauptung einer jungen Frau. In dem fein komponierten Tagebuchroman setzt sich, Stück für Stück, die Geschichte einer schwierigen Kindheit zwischen den Bahamans und Kitzbühel, dem jüdischen Großvater in Wien, und einer englischen Familiendynastie in Sizilien zusammen. Die Autorin ist auf das Europäische Festival des Debütromans in Kiel eingeladen.
Andere Titel des Verlags bzw. der Autorin/des Autors
- Der Bergmann und der Kanarienvogel
- Der Mond und die Feuer
- Die Jagd nach dem Blau
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- Menschenhändler - Die Schattenwirtschaft des islamistischen Terrorismus
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Verlagstexte
Antonia hat früh und ohne Liebe geheiratet, in der bornierten bürgerlichen Gesellschaft Palermos fühlt sie sich fremd. Ihr kleiner Sohn, der einzige Hoffnungsschimmer, wird ihr immer mehr entzogen. Als nach dem Tod der Großmutter Familiendokumente in ihre Hände gelangen, verbringt sie ganze Tage und Nächte über alten Briefen, Zetteln und Fotos – und die Erinnerung spricht. Da waren der jüdische Großvater, Kunstsammler in Wien, der in den dreißiger Jahren nach Brasilien geflüchtet ist, und, auf der anderen Seite, Nonna und die Villa Clara, Sitz der englischen Familiendynastie in Sizilien. In ihrem Tagebuch rekonstruiert Antonia Stück für Stück die schwierige Kindheit und Jugend zwischen Nassau auf den Bahamas, Kitzbühel und London. Der frühe Tod des Vaters scheint wieder auf, die Mutter, die sich neu verheiratet und Antonia ins Internat schickt. Das Vergangene beginnt, ihren sizilianischen Alltag zu erfassen, und plötzlich liegt etwas in der Luft, das nicht mehr aufzuhalten ist.
Gabriella Zalapìs Roman in Tagebuchform verknüpft eine atemberaubende kosmopolitische Familiengeschichte mit dem Kampf einer jungen Frau um Selbstbehauptung. Einfühlsame, fein abgestimmte Einträge und eingestreute Fotos machen die Veränderung greifbar.
Presse- und Autorenstimmen
Was für ein faszinierendes Trompe-l’Œil. Antonia, dieser wunderbare erste Roman über eine kämpferische Frau, die auf eine Reihe sich auflehnender Vorfahren zurückblicken kann. Eine echte Entdeckung.
(Jérôme Garcin, Le Nouvel Observateur
)Textprobe(n)
3. Juli 1965
Gestern ist Großvater am Flughafen angekommen. Ich habe ihn mit Arturo abgeholt. Vati. Er ist alt geworden. Seine Haare sind jetzt ganz weiß, seine dicken Augenbrauen aber immer noch rabenschwarz. Wie lange wird er die Reise von Teresópolis noch machen können? Er bleibt zwei Wochen bei uns. Ich bin glücklich, den Klang seiner Stimme und seinen einzigartigen Akzent zu hören. Unsere Vertrautheit, seine Gesten, sein Lachen wiederzufinden und seine Augen, die ständig etwas suchen. Er ist immer noch genauso lebhaft und akkurat. Immer noch genauso elegant mit seiner schlanken Figur, und wie er den Kopf hält!
Ich denke an die Zeit zurück, als Vati einen wichtigen Platz in meinem Leben einnahm. Das war in Florenz, als ich im Internat war. Damals hat er angefangen, mir einmal in der Woche zu schreiben. Ich höre noch die Stimme der Direktorin, Mrs Holmes, die vom unteren Ende der Holztreppe "Po-ost!" heraufrief. Dann das wilde Gerenne, die lauten Schritte meiner Kameradinnen auf den Stufen. Die Freudenrufe. Die der Enttäuschung. Ich zog mich am liebsten in mein Zimmer zurück, um Vatis Briefe zu lesen. Unter Tausenden würde ich seine Frakturschrift und das cremefarbene Papier erkennen, das er benutzte. Ich schnupperte immer erst am Umschlag, bevor ich ihn öffnete, in der Hoffnung, seinen Duft oder etwas Exotisches zu riechen. Ich war die Einzige, die Post aus so weiter Ferne bekam, aus Brasilien ... ein anderer Planet. Er begann jeden seiner Briefe mit Meine geliebte Antonia und unterschrieb mit Dein Vati. Sie enthielten Neuigkeiten über seine Gesundheit, sein Leben in Teresópolis, meine Mutter (die mir nur förmliche Grußkarten zum Geburtstag oder zu Weihnachten schickte). Dieser Briefwechsel hat das Band zwischen uns besiegelt. Er schrieb mir, ich sei die Tochter, die er gern gehabt hätte. Seine Zuneigung war beruhigend und gab mir Kraft. Nonna und er waren meine Schutzengel. Vati hat mich bei meiner Hochzeit zum Altar geführt. Ich war so stolz, an seinem Arm in die Kathedrale zu kommen. Ich höre noch seine Worte, als wir durch das Portal traten: "Komm, meine geliebte Antonia. Geh erhobenen Hauptes. Denn heute bist du eine weiße Calla- blüte."
Vati ist für zwei Monate in Europa. Seine weitere Reiseroute: Neapel, Florenz, London, um Antiquitätenhändler zu treffen und Raritäten aufzutreiben. Genf, um seine Tochter und seine Exfrau, Mutti, zu besuchen. Zürich wegen seines Bankiers. In Nizza trifft er sich mit Freunden. Kitzbühel zur Erholung. Von Madrid fliegt er zurück nach Rio. Beim Abendessen hat er uns begeistert erzählt, dass er auf der Suche nach Objekten für seine neue Freundin Evelyn ist. Sie möchte in Rio ein Museum eröffnen, und er berät sie. Er hat sie in New York bei einem gemeinsamen Freund kennengelernt, der ebenfalls Gemälde sammelt. Wie Vati hat auch Evelyn Österreich in letzter Minute verlassen, sie ist kunstbesessen wie er und wird wie er nie nach Wien zurückkehren.
Ist es möglich, dass Vati sein Leben in Brasilien einfach neu angefangen hat? Er redet nie vom Krieg, von Verrat, Erniedrigung oder Raub. Nichts über seine Eltern, die in den Lagern ermordet wurden. Nichts, nichts, nichts.
Arturo lässt ihn nicht aus den Augen.
4. Juli 1965
Wie ich mich gefreut hatte, Vati wiederzusehen, mit ihm an den Strand von Mondello zu fahren! Den Sand unter meinen Füßen zu spüren ... und nun stehe ich mitten in der Wüste. Nach dem Spaziergang haben wir uns nebeneinander in das Café direkt am Meer gesetzt, und ich habe mich getraut, ihm von meinen Zweifeln wegen Franco, meiner Unzufriedenheit als Mutter, meinem Gefühl des Nichtseins zu erzählen. Ich hatte den Blick aufs Wasser gerichtet und war so darauf konzentriert, die richtigen Worte zu finden, um ihm zu erklären, wie sehr dieses öde Leben auf mir lastet, dass ich nicht bemerkte, wie sich sein Gesicht veränderte: Als ich ihn ansah, war er ganz bleich geworden. Er war wie versteinert, und seine Stimme kam wie aus dem Jenseits, als er mich mit seinen schwarzen Augen ansah und sagte: "Beklag dich nicht, du hast eine Familie. Es ist deine Aufgabe, sie glücklich zu machen. Ist dir klar, wo du lebst? Wie du lebst? Du solltest zufrieden sein!" Er betonte immer wieder, dass Franco viel arbeite und ich sein Schweigen aushalten müsse. "Es ist ganz normal, dass er sich nicht für dich interessiert, er ist müde, er hat Sorgen. Du bist es, die sich Mühe geben muss! Auf deinen Schultern ruht das Glück der Familie und erst recht Arturos Erziehung." Diese Flut von Forderungen nahm mir den Atem. Es war, als würde ich zu Boden stürzen und mir das Gesicht aufschlagen.
5. Juli 1965
Ich habe Arturo zum Geburtstag eines Klassenkameraden gebracht. Die Kinder sollten sich verkleiden. Zum Glück hatten wir Nonnas Koffer, darin haben wir eine Musketierjacke, eine lila Hose und eine weiße Perücke gefunden, alles passte perfekt. Er hat sich so gefreut. Nonna wäre glücklich gewesen, dass die Kostüme, die sie für die Tableaux vivants in der Villa Clara genäht hat, immer noch zu etwas gut sind. Als ich Arturo bei seinem Freund abgab, drückte er mir sein Heft in die Hand, das er immer mit sich herumträgt, "Meine Traumhäuser". Ich habe es mir im Café angesehen, lauter bizarre Häuser, die er seine Schlösser nennt. Ob er einmal Architekt wird?
Franco findet, ich soll Kochkurse besuchen, um mich zu beschäftigen. "Du bist zu viel allein. Das bringt dich auf andere Gedanken, und vielleicht wirst du dann doch noch eine anständige Köchin und ordentliche Ehefrau."
9. Juli
Vati. Vati. Ich habe ihn anscheinend so tief enttäuscht, dass ich nicht mehr würdig bin, seine Enkeltochter zu sein. Er meidet jedes Gespräch. Wir sind wie Fremde. Wenn er mir diese Bestrafung nur erklären würde! Aber ich traue mich nicht, ihn danach zu fragen. Er geht mir aus dem Weg, spielt mit Arturo, erzählt ihm von Musik und von der Malerei. Seine ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf ihn und Franco. Er will eine neue Vertrautheit zwischen sich und ihnen schaffen, das ist offensichtlich. Ich spüre, dass er auf die Seite meines teuren Gatten gewechselt ist. Er hat ihnen erzählt, wie sein Leben zerstört wurde, als wäre es ein Piratenabenteuer: wie er aus Wien flüchtete, wie er es schaffte, einen Teil seiner Sammlung in verschiedenen Museen Europas in Sicherheit zu bringen, wie der Rest seiner Kunstwerke beschlagnahmt wurde, wie er erfuhr, dass ein ranghoher Nazi seine Gemälde gekauft hatte, wie er nach England floh, Zuflucht bei Freunden in Nizza fand, wie er in einem Lager für ausländische Juden eingesperrt wurde, wie ihm die Flucht gelang, wie ein Freund ihn an die spanische Grenze brachte, wie er nach Portugal gelangte, von wo er schließlich ein Schiff nach Brasilien genommen hat.
Ich merke, dass ich störe. Franco, Arturo und Vati sind in einer Blase, von einer unsichtbaren Membran umgeben. Wo ist mein Platz in dieser Familie?
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Antonia. Tagebuch 1965–1966
Roman / Novelle
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ALS BUCH:
Hardcover
120 Seiten
Format: 120 x 190 mm
Auslieferung: ab 25. März 2020
D: 20,00 Euro A: 20,60 Euro CH: 23,00 CHF
ISBN (Print) 978-3-85869-862-9
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ALS EBOOK:
Datenformat(e): epub
Auslieferung: ab 25. März 2020
D: k. A. A: k. A. CH: k. A.
ISBN (eBook) 978-3-85869-878-0
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