Belletristik
Sudabeh Mohafez
Behalte den Flug im Gedächtnis
Erzählungen. Mit einem Vorwort der Autorin
Sudabeh Mohafez erzählt in diese Geschichten vom Verschwinden und der Wiederkehr der Liebe, von Annäherungen über Sprachgrenzen hinweg und von Menschen, über die sonst nur selten und noch seltener so einfühlsam gesprochen wird. Eine unverwechselbare literarische Stimme des Friedens!
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Verlagstexte
Wo gehörst du hin? Welche Kultur ist die deine? Auf Fragen wie diese gibt es keine eindeutigen Antworten – schon gar nicht, wenn man wie Sudabeh Mohafez in mehreren Welten zu Hause ist: Wer im Iran aufwächst, die Ferien aber regelmäßig in Deutschland verbringt, wer mit der alltäglichen Gleichzeitigkeit einer Mutter- und einer Vatersprache lebt und vom ersten Tag an die innige Verflechtung dieser Sprach- und Kulturräume verinnerlicht, dem kann jegliche Festlegung in die eine oder andere Richtung nur absurd erscheinen.
Behalte den Flug im Gedächtnis versammelt Geschichten, in denen genau solche bi-kulturellen Lebenswirklichkeiten aufscheinen. Sie handeln vom Verschwinden und der Wiederkehr der Liebe und sind bevölkert von Menschen, über die sonst nur selten und noch seltener so einfühlsam gesprochen wird. Der Band legt teils preisgekrönte Erzählungen vor (Adelbert-von-Chamisso- und MDR-Literaturpreis) und führt uns in eine Welt der Vielfalt, der Geheimnisse und der immer wieder überraschenden Auswege. Für Sudabeh Mohafez liegt die Antwort auf einige der drängendsten Fragen unserer Zeit nicht etwa in der Aufhebung, sondern in der offenherzigen Engführung kultureller Unterschiede.
Textprobe(n)
Der alte König
An dem Tag trug ich ein Dirndl. Ich hatte drei verschiedene und dies war mein Lieblingsdirndl: grün mit kleinen Rosen darauf. Es war warm in Teheran, die Sonne blendete.
"Oktober 1966" steht in der runden Schreibschrift meiner damals einunddreißigjährigen Mutter auf der Rückseite des Fotos. Die schwarzeTinte ihres Füllers hat mit den Jahren die Farbe eines tief dunklen Aquamarin angenommen, und ich kann mir die Tatsache, dass ich mich an die Begebenheit überhaupt erinnere, obwohl ich gerade erst drei geworden war, nur damit erklären, dass wir im Familienkreis später noch mehrmals Ähnliches erlebten.
Was ich zu erinnern meine, ist schwammig und ungewiss – bis auf eines: das Wort, das der Mann, der auf dem Foto neben mir steht, freudestrahlend sagte. Es ist Teil der Hörerinnerungen meines Lebens geworden. Als hätte etwas in mir damals schon gewusst, dass es eine Wichtigkeit hat, etwas Wesentliches transportiert, etwas, das mir damals allerdings schleierhaft blieb. Und tatsächlich sollte es noch über zwanzig Jahre dauern, bis ich eine erste Ahnung davon bekam, was sich mir in diesem Moment, der, auf Zelluloid und Fotopappe gebannt, heute als Schwarz-Weiß-Reminiszenz auf meinem Schreibtisch liegt, dargeboten hat als fein gewebtes Muster im Teppich meines Lebens.
Meine Mutter, schwarze Pariser Pfennigabsätze, Dreiviertelarm-Oberteil aus einem Gemisch dunkler Seide und Baumwolle, knielanger, figurbetonter Rock und die Haare modisch hochgesteckt, bückt sich zu einem Wägelchen hinunter, das man heute Buggy nennen würde und in dem mein jüngerer Bruder sitzt. Ich lächle in die Kamera. Neben mir steht der junge Mann, vielleicht siebzehn, achtzehn Jahre alt, in schäbigem Anzug und einem häufig gewaschenen Hemd. Er strahlt meine Mutter an. Seine weiche, melodische und möglicherweise vom Stolz über seine Kenntnisse ein wenig gehobene Stimme klingt mir noch in den Ohren. Mit leuchtenden Augen sagte er: "Oilitleh!"
Er sagte es zwei Mal und beim zweiten Mal wendete sich meine Mutter mit einem höflichen Lächeln hilfesuchend zu meinem Vater um, der gerade das Foto schoss. Wie die Situation ausging, weiß ich nicht mehr, nur dass ich später im Auto fragte, was der Mann denn gesagt habe, weil ich das Wort nicht kannte und spürte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.
"Ach", sagte mein Vater, "nichts weiter. Er hat 'Oilitleh' gesagt. Viele meiner Landsleute glauben, das sei die schickliche Art, Deutsche zu begrüßen."
Ich verstand nicht, was er damit meinte, und machte ein Lied aus dem Wort, was meinen Vater zum Lachen brachte: "Oilitleh, Ohoilitleeeeeeh, Ohoi-ohoi-ohoililtleheheeee", und immer so fort, bis meine Mutter auf dem Beifahrersitz herumfuhr, mich ärgerlich ansah und mir den Mund verbot. Erschrocken, verwirrt und verschämt starrte ich auf den Boden. Sie sagte nichts weiter, drehte sich nur um und schwieg beharrlich während der gesamten Heimfahrt.
"Was heißt das?", fragte ich später meinen Vater, als er mich ins Bett brachte. "Was heißt 'Oilithleh'?" Das Sprech- oder besser Singverbot hatte dazu geführt, dass ich inzwischen ganz vernarrt war in das Wort. "Und warum hat der Mann den Arm so komisch nach vorn gestreckt, als er es sagte?"
Vater strich mir über die Stirn.
"Es gab einmal einen König in Deutschland", erklärte er. "Er hieß Hitler. Er dachte, die besten Menschen der Welt kämen aus dem Iran. Er nannte sie Arier. Und wie du weißt, ist der Titel unseres iranischen Königs Schahanschah Ariamehr: Kaiser der Könige, Licht der Arier. Die Deutschen mögen die Iraner deswegen, und die Iraner mögen die Deutschen. Genau wie deine Mutter und ich uns ja auch lieben. Diesen König begrüßte man so, wie der Mann auf der Straße deine Mutter begrüßte, als er herausfand, dass sie Deutsche ist: Man streckte den Arm aus uns sagte 'Heil, Hitler!' Mit einem persischen Akzent gesprochen, klingt das dann wie 'Oilitleh'."
Ich dachte über den alten deutschen König nach. Irgendetwas stimmte immer noch nicht. Mein Vater schaltete das Licht aus, aber ich rief ihn zurück.
"Warum darf ich denn nicht von dem König singen?", wollte ich wissen.
"Weil er ein schlechter König war, mein Kind. Schlechte Könige soll man nicht besingen", gab er mir zur Antwort. Dann zog er die Tür zu und ich spürte, dass dies eine abschließende Erklärung gewesen war. Eine, auf die keine weitere folgen würde.
In der Dunkelheit dachte ich darüber nach, was aus einem König einen schlechten König machte, kam aber nicht besonders weit damit. Also summte ich trotzig und mit fest geschlossenen Lippen meine Oilitleh-Melodie vor mich hin. Ich tat es, bis ich einschlief, und behielt diese Angewohnheit noch wochenlang bei.
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Behalte den Flug im Gedächtnis
Erzählung(en)
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ALS BUCH:
Broschur
128 Seiten
Format: k. A.
Auslieferung: ab 30. Oktober 2017
D: 17,90 Euro A: 17,90 Euro CH: k. A.
ISBN (Print) 978-3-942375-31-3
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