Belletristik
Alfonsina Storni
Chicas. Kleines für die Frau
Wie findet man einen Platz im Leben? Alfonsina Storni sah sich als "moderne Frau" und ging ihren Weg als Künstlerin: Hildegard E. Keller legt Stornis Werk als Journalistin, Erzählerin, Theaterautorin und Lyrikerin nun erstmals in seiner ganzen Breite auf Deutsch vor. Alfonsina ist eine Entdeckung, finden auch Elke Heidenreich und Pedro Lenz.
Verlagstexte
Wie kamen die ersten Schweizer Journalistinnen zu Wort? Die vielleicht berühmteste, die aus dem Tessin stammende Alfonsina Storni, kann man jetzt neu kennenlernen: als Reporterin in Buenos Aires. Sie durchstreifte die Grossstadt, schrieb gewitzt und engagiert über Mann und Frau, über Mütter und Kinder, über Verliebte und Unverheiratete, über Immigranten wie sie und achtzig Prozent der argentinischen Bevölkerung. Die meisten Texte in diesem Band erschienen erstmals als Kolumnen, zwischen 1919 und 1921. Stornis Texte waren eindeutig den Rubriken für die Frau zugeordnet, über die sich Storni in ihrer ersten Kolumne lustig macht. Das sieht man auf den ersten Blick,denn neben ihrer Spalte standen Rezepte, oft aus europäischen Königshäusern. Immer schrieb Alfonsina Storni, wie es damals auch für einen Robert Walser oder Joseph Roth üblich war, in Zeitungen und Zeitschriften. Stornis Texte aber sind zwischen Werbung für Babypuder, Nerventonikum und Autos eingeklemmt. Auch solche Inserate sind in diesem Band zu bestaunen. Kunst im Dienst des Konsums, in Farbe.
Textprobe(n)
Der Tag ist grau, hartnäckiger Regen schlägt gegen die Scheiben, und auf dem Nachhauseweg habe ich Geschichten aus dem Leben von Verlaine gelesen. Man hat mir die Frage gestellt: "Sind Sie arm?". Da möchte ich am liebsten antworten: "Emir, ich dichte."
In diesem Moment fällt mein Blick auf die Glühbirne, und das lenkt meine Gedanken auf eine Menge Dinge: die moderne Zeit, das Jahrhundert, in dem wir uns bewegen, die Hygiene, der Kampf gegen den Alkohol, Theorien zur vegetarischen Ernährung und so weiter. Augenblicklich begreife ich, dass ich in meinem Jahrhundert leben muss. Deshalb mache ich der Romantik, mit der mich das Regenwetter und Verlaine angesteckt haben, den Garaus, setze mein sorglosestes Lächeln auf (ich habe viele Arten) und antworte: "Nicht schlecht, Emir, ich komme durch."
Da schlägt mir Emir vor: "Warum übernehmen Sie nicht die Kolumne Für die Frau in der Zeitschrift La Nota?" Ich werfe ihm den wütendsten aller Blicke zu (ich bin zu vielen verschiedenen fähig). Schlagartig kommen mir Titel in den Sinn wie Plaudereien unter Frauen, Damengespräche, Feminin, Die geheimnisvolle Dame – alles durchaus ehrenwerte Rubriken, die man aber der Freundin anvertraut, mit der man nichts Rechtes anzufangen weiß und die empfohlen worden ist. "Emir", protestiere ich, "ich koche gern, am liebsten zu Hause, wenn es mir gerade passt oder ich meinen Schatz erwarte und Lust habe, etwas Leckeres zuzubereiten."
Nun wird es dem Chefredakteur allmählich zu bunt. Er redet auf mich ein, sagt weiß Gott nicht alles, spickt seine Erklärungen mit Schmeicheleien und überzeugt mich schließlich davon: Er braucht für seine Kolumne Für die Frau ein Genie, und ich glaube nun selbst, dieses Genie zu sein. Ich zücke meinen Handspiegel, überprüfe, ob ich wirklich ich selbst bin, und sehe mich tatsächlich ganz unverändert.
Nun gut. Ich entschließe mich also, die Kolumne Für die Frau zu übernehmen. Ich will niemandem dafür die Schuld zuschieben. Menschen wie Emir, die ursprünglich aus dem Osten stammen, sind Fatalisten, Martín Fierro war es ebenfalls, und das weibliche Geschlecht, zu dem ich gehöre, ist nun mal aus Gewohnheit resigniert.
Wenn sie euch vor zwei Monaten gesagt hätten, dass bei den nächsten Parlamentswahlen eine Frau unter den Kandidaten wäre, hättet ihr gelacht. Nie hättet ihr erwartet, dass so plötzlich, wie ein Pilz nach dem Regen aus dem Boden schießt, Frau Doktor Lanteri die Galanterie der Männer auf die Probe stellen und ermitteln würde, wie es um deren liberale Einstellung tatsächlich bestellt ist.
Frau Doktor Lanteri – eine Person, für die ich Respekt und Freundschaft empfinde – hat großen Pioniergeist bewiesen. Als Ärztin, deren Praxis stets mit Patienten überfüllt war, beschloss sie von einem Tag auf den andern, ihren Beruf an den Nagel zu hängen und fortan von den Erträgen der von ihr selbst geleiteten Hühnerfarm zu leben. Als Frau von Charakter zögerte sie nicht, sich in aller Öffentlichkeit der Feindseligkeit eines Großteils des Wahlvolkes zu stellen.
Ich bin von Geburt an neugierig. Kaum hatte ich von Frau Doktor Lanteris Kandidatur gehört, machte ich eine Meinungsumfrage unter den Männern in meinem Bekanntenkreis. Ich fragte einen Freund nach dem andern; die einen lobten ihr Profil über alles, die andern fanden es grotesk und lächerlich. Weil sich aber unter meinen persönlichen Freunden kein flotter junger Mann zwischen zwanzig und dreißig Jahren befindet – mit wespenschlanker Taille und Pomade im Haar, spärlicher Bildung und angenehmen Umgangsformen, ein Nachtschwärmer und zärtlicher Liebkoser von hellhäutigen Händen zu tanzbaren Rhythmen – machte ich mich auf die Suche nach dem parfümierten und geschniegelten Mannsbild. Mit Patriotismus und Bürgersinn warf ich meine Netze aus. Ich wollte in die Meinungsvielfalt und somit ins Denken des Landes eindringen – bis ich über ihn stolperte. Ich lernte ihn kennen und befriedigte mit seiner Hilfe meine Neugier.
"Was halten sie von Frau Doktor Lanteri?"
"Hässlich ist sie", antwortete er mir.
Das fand ich derart amüsant, dass ich noch immer lachen muss.
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Chicas. Kleines für die Frau
Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Hildegard E. Keller. Mit Geleitwort von Georg Kohler.
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ALS BUCH:
Hardcover
264 Seitenzweifarbiger Druck, 20 Farbillustrationen, Rezepte auf Farbseiten, mit Lesebändchen
Format: 140 x 215 mm
Auslieferung: ab 15. Januar 2021
D: 28,00 Euro A: 28,80 Euro CH: 29,80 CHF
ISBN (Print) 978-3-907248-03-4
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