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Das Einsame Begräbnis

Belletristik

F. Starik (Hg.), Maarten Inghels (Hg.)

Das Einsame Begräbnis

Geschichten und Gedichte zu vergessenen Leben
Deutsche Erstausgabe
Aus dem Niederländischen von Stefan Wieczorek

Immer mehr Menschen werden begraben, ohne dass jemand Notiz davon nimmt. Die Beerdigungen finden ohne Angehörige oder Bekannte der Toten statt. Das Buch "Das Einsame Begräbnis" macht 32 solcher Schicksale sichtbar; erzählt vom Leben des Verstorbenen und vom Begräbnis, wo jeweils ein Dichter oder eine Dichterin ein persönlich verfasstes Gedicht als einen letzten Gruß vorträgt.

Andere Titel des Verlags bzw. der Autorin/des Autors

Verlagstexte

Jedes Jahr wird eine große Anzahl Menschen begraben, ohne dass irgendjemand davon Notiz nimmt. Unter den Verstorbenen finden sich Obdachlose, Selbstmörder, illegale Einwanderer, Drogenkuriere, Opfer diverser Verbrechen – ein Panorama der vom Glück Vergessenen. Meist jedoch sind es alleinstehende ältere Menschen, die zu Hause aufgefunden werden, nachdem sich die Nachbarn über die Geruchsbelästigung im Treppenhaus beschwert haben.
Das Einsame Begräbnis ist ein Projekt aus den Niederlanden und Flandern, bei dem Dichter für vereinsamt Gestorbene anhand einer Recherche ein persönliches Gedicht schreiben und dieses während des Begräbnisses verlesen. Es ist ein letzter Gruß an Menschen, deren Leben zumeist aus der Bahn geriet und die ohne die Begleitung von Familie oder Freunden begraben werden.
Dichter sind keine Sozialarbeiter, aber sie können die Aufmerksamkeit für das Leben und Sterben von Einsamen verändern. Indem Gedichte entstehen, die die Existenz eines Menschen bekräftigen. Das Einsame Begräbnis geht von der Idee einer solidarischen Gemeinschaft aus, in der wir Verantwortung füreinander haben, über den Tod hinaus.

Der Dichter und Künstler F. Starik koordiniert seit 2002 das literarische und soziale Projekt Das Einsame Begräbnis in Amsterdam. Analog dazu betreibt der flämische Dichter und Prosaschriftsteller Maarten Inghels seit 2009 ein gleichnamiges Projekt in Antwerpen. Aus den bislang mehr als dreihundert Einsamen Begräbnissen in beiden Städten präsentiert der vorliegende Band zweiunddreißig Beispiele: erschütternde Reportagen und Gedichte zu vergessenen, verschwundenen Leben. Zwanzig der bedeutendsten Lyriker aus den Niederlanden und Flandern sind als "Dichter vom Dienst" vertreten.

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© Cover: Verlag, Foto(s): Goesseln, Michiel Hendrickx

Textprobe(n)

Antwerpen

Einsames Begräbnis Nr. 13

Herr Nguyen Van Kham

Herr Nguyen Van Kham wurde am 1. September 1954 in Thakhek in Laos geboren und am 4. November 2010 in seiner Wohnung in Antwerpen aufgefunden, vermutlich war er bereits anderthalb Jahre zuvor verstorben. Sein Begräbnis fand am Dienstag, den 16. November auf dem Friedhof Schoonselhof statt. Dichter vom Dienst war Maarten Inghels.

Nie zuvor hat Herr Nguyen Van Kham so viel Aufmerksamkeit erhalten wie jetzt, lange nach seinem Tod. Nachdem monatelang Mahnschreiben an ihn geschickt wurden, um die ausstehenden Mietzahlungen einzufordern, klopft der Gerichtsvollzieher am 4. November an seine Tür und findet den mumifizierten Leichnam von Herrn Nguyn Van Kham vor. Nguyen Van Kham ist zu diesem Zeitpunkt schon fast zwei Jahre tot. Die Nachbarn klagten eine Weile über einen üblen Geruch auf dem Gang, aber der verschwand wieder und so dachten sie nicht weiter darüber nach. Erst als der Gerichtsvollzieher mit den Kontobelegen in der Hand Herrn Khams Geld nicht eintreiben konnte, wurden Nachforschungen angestellt. Der vierundfünfzig Jahre alte Bootsflüchtling wurde zu einer Schlagzeile im Fernsehen und in den Zeitungen, später am Abend wurde sein Tod noch einmal in einem Special erörtert, daran anschließend zeigte man einen Film über "die Einsamkeit in den Großstädten". Ein Leichenbeschauer erzählt, wie eine Leiche auf natürliche Weise mumifizieren kann. Die Nachbarn beteuern, dass sie wirklich von nichts wussten. In der Berichterstattung kommen auch regelmäßig Sozialarbeiter zu Wort, deren Wirken darauf zielt, bessere Kontakte zwischen den Bewohnern in Wohnblöcken des sozialen Wohnungsbaus herzustellen. Zum Beispiel wurde in zwei gegenüberliegenden Wohnblöcken vereinbart, dass man die Gardinen aufzieht, wenn man aufgestanden ist, dann wissen die Nachbarn auf der anderen Seite, wenn etwas nicht in Ordnung ist.

In den Spätnachrichten sehe ich den Auftritt von Paula. Als ehrenamtliche Mitarbeiterin der Obdachlosenhilfe Kamiano der Gemeinschaft Sant'Egidio ruft sie zu einer Mahnwache für Herrn Nguyen Van Kham auf, als Zeichen der Solidarität: Wir müssen einander bessere Nachbarn werden. Während der Wache werden Blumen in den Eingangsbereich des Apartmentgebäudes gelegt, das aus seelenlosem Beton hochgezogen wurde. Bei Block 444 werden Kerzen angezündet.

Nachbarin Jenny fiel auf, dass Herr Van Kham ein adretter Mann war, lese ich am nächsten Tag in der Zeitung, immer gut gekleidet. Wegen der Sprachunterschiede hätten sie keinen Kontakt gehabt, gibt sie allerdings zu. Zusammen einen Kaffee zu trinken, war nicht drin. Mal kurz bei ihm vorbeizuschauen ebenso wenig. Herr Van Kham wohnte im vierten Stock und hatte die Etage jahrelang für sich allein, sie wohnte drei Stockwerke unter ihm. Sie begegneten sich ab und zu im Treppenhaus, ja, ein freundlicher, gutaussehender Mann. Er hat im Gang sogar den Abfall von anderen weggeräumt.

Weil sie ihn schon eine Zeitlang nicht gesehen hatte, nahm sie an, er wäre in Ferien gefahren, irgendwohin weit weg, oder er hätte einen Unfall gehabt und läge im Krankenhaus oder wäre plötzlich umgezogen und niemand hätte seinen Platz eingenommen. Sie sortierte seine Post, entsorgte die Reklame und bewahrte die übrigen Sendungen sorgfältig auf. Eines Tages wird er zurückkehren, dachte sie. Was jetzt mit der ganzen Post passiert, weiß ich nicht. Wenn dich zu Lebzeiten niemand bemerkt, wird das bei deinem Tod nicht anders sein.

Bevor ich die Tram 24 zum Friedhof Schoonselhof nehme, muss ich noch meine Schuhe putzen – für Herrn Van Kham. Gestern war ich auch auf dem Friedhof und habe die Gräber aller Einsamen Begräbnisse besucht. Das Grab von Herrn A. D. S., das letzte in der Reihe, war überladen mit Blumengebinden, Rosen und Kränzen. Bei seinem Begräbnis war niemand aufgetaucht. Ich würde wirklich gerne wissen, wer sich nach seinem Tod noch solche Gedanken um ihn machte, von wem die vielen Blumen stammen, woher die noble Geste.

Als ich links von den Blumen, zwischen dem Grab von Herrn A. D. S. und dem von Herrn M. N. P., zum Kopfende mit dem schlichten Namensschild gehen wollte, versank ich im Schlamm. Da hatte ich mich getäuscht, als ich dachte, das sieht wie ein fester Bodengrund aus. Bis zu den Knöcheln war ich eingesunken und mit nicht besonders eleganten Bewegungen kam ich schließlich wieder heraus. Als ich wieder auf trockenem Boden stand, konnte ich auf einem Band lesen, dass die Blumen von "dos amigos" kamen, die spanischen Freunde, die er noch hatte, die aber vor dem Begräbnis nicht zu erreichen waren. Den Zustand meiner Schuhe vergaß ich, ich war froh, dass Herrn A. D. S. doch noch mehr Aufmerksamkeit widerfahren war, als wir gedacht hatten.

Mit gewienerten Schuhen komme ich durch den Haupteingang des Friedhofs zum Begräbnis von Herrn Nguyen Van Kham und begrüße Bert. Schon etwa zwanzig Menschen stehen in einer Gruppe zusammen, unerwartet aufgetauchte sympathisierende Leute, in allen Größen, Altersstufen und Farben. Schwerer Nebel hängt über den Gräbern, man kann nicht weit sehen. Das Licht ist gespenstisch weiß. Es dauert nicht lange und die ersten zwei Fotografen schleichen herum, später tauchen noch ein paar auf, zusammen mit einem Journalisten. Zwei Zeitungen und ein Radiosender wollen festhalten, wie Herrn Van Kham ein letzter Gruß erwiesen wird, als wäre er ein Weltstar gewesen. Das Publikum wächst auf dreißig Menschen an. Das alles steht in krassem Gegensatz zu den anderen Einsamen Begräbnissen, bei denen es meistens mucksmäuschenstill ist.

Ich begrüße Paula, die erneut ihre Unterstützung bekundet und rote Rosen an die Anwesenden verteilt. Sie hat zu wenig Rosen. Buketts und Kränze kommen zusammen mit meinen zwei Töpfen violetten Heidekrauts in den Leichenwagen, auf den Sarg. Von Paula erfahre ich, dass die Anwesenden mit dem asiatischen Aussehen Herrn Van Kham noch von früher kennen, sie haben Fotos aus dieser Zeit dabei. Allerdings sprachen sie verschiedene Sprachen. Zusammen mit einigen Landsleuten und Vietnamesen hat er Mitte der neunziger Jahre in einem Auffanglager des Roten Kreuzes in Merksem gewohnt. Er arbeitete als Schneider in Aartselaar, wo er Anzüge weiter oder enger machte. Anscheinend hatten die Kollegen später Krach mit Herrn Van Kham, es kam zu einem Zerwürfnis. Danach blieb der Kontakt unterbrochen. Nguyen Van Kham zog sich vom Leben zurück und kam nur noch selten nach draußen.

Später werde ich in einem Bericht lesen, dass Nguyen Van Kham noch einmal ein Fest gefeiert hat. Sein Nachbar Saidi, ein älterer marokkanischer Musiker, lädt ihn am Silvesterabend 2007 zu einer Flasche Whisky und einer Mahlzeit ein. Das Gespräch kommt nicht richtig in Gang, weil beide nur einige Brocken Niederländisch können. Saidi nimmt seine akustische Gitarre zur Hand, und Nguyen Van Kham pfeift die Melodie mit. Rotwein fließt, sie lachen, machen Musik und verabschieden sich am frühen Morgen voneinander.

Die alten Bekannten von Nguyen Van Kham machen gegenseitig Fotos in verschiedenen Posen vor dem Leichenwagen, dem Sarg, später am Grab. Als sich die Prozession in Bewegung setzt, kreiseln die Pressefotografen wie Paparazzi um die bunte Gesellschaft. Sie stehen immer an der Rasenkante, laufen zehn Meter vor, drehen sich um und fotografieren die Trauernden.

Am Areal U angekommen, werden zunächst alle Buketts von den Trägern zur Grube getragen, die Gesellschaft wartet brav, ein Telefon klingelt, jemand nimmt den Anruf lautstark an. Dann gehen wir hinter dem Sarg her über die Anlage. Als der Sarg auf dem Schragen steht und das Stimmengewirr verstummt, dankt Bert den Anwesenden für ihr Kommen und gibt mir ein Zeichen, dass ich jetzt das Gedicht für Nguyen Van Kham vorlesen darf. Ich stocke manchmal und die Beine zittern. Die ganze Zeit hält mir ein Journalist sein Radiomikrofon unter die Nase.

 

So viel Aufmerksamkeit waren Sie wohl nicht gewöhnt

Der Mekong war eine Nahtstelle zwischen
Ihrer alten Stadt und einem anderen Niemandsland,
für Sie jedoch war eine Bestimmung reserviert,
die an weitere Unbekannte grenzt.

Die Kontoauszüge in den Händen,
vermuten wir, dass Sie hier gelebt haben
unter uns, vierte Etage, in einem abgelaufenen
Kalenderjahr, ein tadelloser Kerl.

Während Generationen von Ägyptern sich herumschlugen
mit der richtigen Methode, wurden Sie zur Mumie
von ganz allein, malad vor dem Bett
liegend, vom Leben abgewandt.

Sieben Minuten Sendezeit im Fernsehen,
Ihr Weggang wird in den Nachrichten gedeutelt,
eine Spalte auf Seite zwei der Zeitung,
so viel Aufmerksamkeit waren Sie wohl nicht gewöhnt.

Unbehagen löst Ihr Verschwinden bei uns aus,
aus Entrüstung werden wir plötzlich
zu besseren Nachbarn, Nachbarsfrau Jenny hätte gerne
einen Kaffee getrunken, wenn sie Ihre Sprache gekonnt hätte.

Wir haben versagt, gebe ich ohne Weiteres zu, haben Sie erst
beim Ausbleiben Ihres Geldes überhaupt bemerkt.
Sogar mit Ihrem jahrelangen Schweigen über den Tod
hinaus hätten wir wissen müssen, wer Sie sind.

 

Nach dem Vorlesen lege ich das Blatt auf den Sarg, sodass das Gedicht ihn gleich mit ins Grab begleitet. Zeremonienmeister Bert macht mit einer Geste deutlich, dass jeder in Ruhe Abschied nehmen und einen letzten Gruß darbringen darf. Die asiatische Gruppe hat deutliche Schwierigkeiten mit diesem sonderbaren Ableben von Herrn Van Kham. Noch etwa die Hälfte der Trauergäste wartet am Grab, als Nachbarin Jenny an der Reihe ist. Für mich war sie ein Name in der Zeitung, jetzt taucht sie plötzlich vor mir auf.

In einem blauen Anorak tritt sie mit festen Schritten vor und holt einen handgeschriebenen Brief aus der Innentasche. Sie gibt Bert ein Zeichen, dass sie noch etwas sagen möchte, etwas vortragen, das sie vorbereitet hat. Sie beginnt mit einem selbstbewussten "Lieber Nachbar", danach hält sie eine eigensinnige Predigt: "Meine Rede ist sicher nicht originell, aber man kann nicht genug betonen, dass es in einer Gesellschaft, in der nur das Geld zählt, nicht weiter verwunderlich ist, zwei Jahre tot in seinem Apartment zu liegen. Solange die Rechnungen bezahlt werden, wird man in Ruhe gelassen. Aber sobald die Kasse nicht mehr stimmt, steht einer auf der Matte. […] Wir, die Nachbarn, konnten nichts tun, auf uns wird doch sowieso nicht gehört. Das haben wir im letzten Jahr auch durchgemacht. Wir warten noch immer auf Antworten, auf die Erstattung von Kosten, die unrechtmäßig gefordert worden sind. Wir können leider keinen Gerichtsvollzieher losschicken. Ja, Nachbar, ich hoffe, dass du zu einem wirklich sozialen Ort aufgebrochen bist. Denn eine Sache wirst du im Laufe der Jahre mit dem Älterwerden auch gelernt haben: Von Menschlichkeit, Solidarität und Ehrlichkeit … wird man nicht reich. Mach’s gut, Nachbar."

Ich denke an Thakhek in Laos, Südostasien. Ich bin nie dort gewesen, aber mithilfe von Google Maps habe ich versucht, mir ein Bild von dem Ort zu machen, in dem er in einem Häuschen an der Main Road aufgewachsen ist, eine wichtige Straße, die zum Mekong führt. Einer der größten Flüsse Asiens, den er mit einundzwanzig Jahren überquerte, um nach Thailand zu kommen. Von dort hat es ihn ins fremde und kalte Belgien verschlagen.

Nachdem jeder auf persönliche Weise Abschied hat nehmen können, wird der Sarg herabgelassen, unter Blitzlichtgewitter. Anschließend bröckelt die Gesellschaft auseinander, die Pressevertreter stellen noch einige Fragen, dann macht sich jeder auf den Heimweg, zu Fuß oder mit dem Auto. Durch den Nebel, der wie ein dicker Schleier über dem Friedhof hängt.

Das Einsame Begräbnis
Lyrik
ALS BUCH:
Softcover
224 Seiten
Format: 140 x 188 mm
Auslieferung ab 26. Oktober 2016
D: 19,00 Euro A: 19,99 Euro CH: k. A.

ISBN (Print) 978-3-902951-19-9

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