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Die Panzerung

Belletristik

Philippe Rahmy

Die Panzerung

übersetzt von Yves Raeber

Philippe Rahmys Reiseroman über seinen Aufenthalt in Shanghai ist ein poetischer, dichter und auch philosophischer Text über Leben und Tod, Lesen und Schreiben. Er erscheint in der Übersetzung von Yves Raeber am 15. Dezember im verlag die brotsuppe.

Verlagstexte

Im Herbst 2011 nimmt Philippe Rahmy eine Einladung der Shanghai Writer’s Association an und bricht zu einer ungewissen Reise auf. In Shanghai angekommen, nimmt der unter der Glasknochenkrankheit leidende Autor lustvoll den Kampf mit den überwältigenden Sinneseindrücken der in Stahl und Beton gepanzerten und doch verletzlichen Megalopole auf. Mit mal heiterer, mal wütender, dabei immer reflektierender Feder verarbeitet Rahmy seine Grossstadterlebnisse, verwebt sie mit verschlungenen Kindheitserlebnissen zu einem fulminanten, die eigene Panzerung lockernden, das Genre des Reiseberichts sprengenden Text. "Philippe Rahmys fünftes Buch ist der fulminante Bericht über einen Aufenthalt in Shanghai. Béton armé (der französische Originaltitel, erschienen bei den Éditions de La Table Ronde) ist Reiseerzählung, dichterisches Tagebuch und philosophische Betrachtung über Leben und Tod, Lesen und Schreiben. Dabei besticht Rahmys poetische Prosa mit einer Kraft, Sensibilität und Musik, die noch lange nach der Lektüre widerhallen." (Ruth Gantert)

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© Cover: Verlag, Foto(s): k. A.

Textprobe(n)

Shanghai ist keine Stadt. Nicht dieses Wort kommt mir in den Sinn. Nichts kommt. Dann höre ich fassungslos den Lärm. Rauschender Ozean, Kriegsmaschine. Ein Tumult, unendliche Perspektiven, Winkel und Flächen, die das Toben noch verstärken. Hier verkanten, verknoten, vervielfachen sich alle Menschenmassen Canettis, entschwinden am Horizont, winden sich um Fixpunkte (Kioske, U-Bahn-Schächte, Busstopps, Fussgängerstreifen). In Pulks oder versprengt drängen die Menschen in die Parks. Aus allen Himmelsrichtungen her ergiessen sie sich von der Strasse in die Shopping-Malls, gleiten von einem Schaufenster zum nächsten, ein geschäftiges, gieriges und verschwitztes Treiben. Der Raum weitet sich. Soweit das Auge reicht, unfassbar grosse Menschenmassen, entlang der Bahnlinien oder in schwindelnd hohen Wohntürmen. Auf den Boulevards, wie angewurzelt stehende Gruppen in gegenseitiger Hypnose, mit flirrendem Blick und wogenden Haaren. Shanghai ist Manguste und Kobra zugleich.

Die Fassungslosigkeit verfliegt. Die Stadt erscheint. Als himmelwärts gerichtetes lebloses Machtgehabe. Als lebendige, sich sehnsüchtig ausdehnende Landschaft. Das Ergebnis ist eine absurde Szenerie. Ich bin noch voll im Jetlag. Wie eine Kuh, an der die Schnellzüge vorbeifahren, verstehe ich nicht, was ich sehe. Alles, was sich bewegt, fasziniert mich. Vor mir stehen bullige, in durchsichtige Tücher gekleidete Menschen dichtgedrängt unter den Bäumen. Sie verkaufen auf Decken ausgebreitete Knochen, die vage Skelette nachbilden. Ich betrachte die Knochen wie Kolumbus, der an den Stränden von Guadeloupe menschliche Gebeine entdeckte, ohne daraus zu folgern, dass Chinesen Menschen fressen. Hinter ihnen brandet der Verkehr.

Die Händler gehören zum Jägervolk der Achang aus dem Nordwesten Yunnans. Den nackten, inzwischen sesshaft gewordenen Jägern wird nachgesagt, dass sie ihre Gefangenen jahrelang am Leben hielten, bevor sie sie verzehrten. Die Knochen bemalten sie in verschiedenen Farben und tauschten sie bei Festlichkeiten untereinander aus. Jetzt leben die Achang in der Nähe städtischer Schlachthäuser. Sie finden dort Zutaten zur Herstellung von Heilsuppen.

Shanghai. Die Wucht dieser Stadt sprengt ihren Namen. In keinem Land, unter keinem Regime hat sich der Mensch einen solchen Gott erschaffen. Ein raumspaltendes, wucherndes Ungetüm. Und schon ist man bei den Analogien. Wie sieht, was man nie gesehen hat, denn aus? Die Bilder jagen sich und werden immer verrückter. Die Realität als Traum­maschine. Strassennamen, Plakate, Schlagzeilen, Stim­men, die anonyme Menge, sie alle verbinden sich mit auf den ersten Blick identischen Gesichtern. Hier ist es, das Volk, das chinesische Volk. Stier. Drache. Volk der Bauern und der Revolution. Im Lärm dröhnender Müllcontainer dreht sich eine schwangere Frau um, bleibt stehen, wird vom Rundumlicht eines Kipp­laders erfasst, blinkt wie ein Hologramm. Sie ist gross und abgezehrt, ausser dem Bauch, den sie mit beiden Händen stützt. Der Lichtkegel wischt über sie hinweg, dann der Stau, der hämmernde Strassenlärm, der stinkende Kipper, und aus den verschlungensten Schichten der Erde quillt die ganze Stadt. Hinter der anonymen Maske seiner Massen zieht Shanghai vorüber. Die Masse löst sich auf. Die Masken fallen. Und jetzt bricht dieses Fleisch und Blut gewordene Leben über mich herein, erregt mich, stösst mir den Kopf zwischen die Schenkel und in den heissen Schoss der Schwangeren, und so werde ich um sechs Uhr abends hier auf dem Asphalt in der Haut aller einsamen Menschen, aller elenden und liebeshungrigen Männer und Frauen dieser Erde geboren.

Gewöhnliche, von ihrer monströsen Umgebung versehrte Menschen. Am Handy, mit Musik in den Ohren, schick, abgespannt, in Kleidern fahl wie Beton. Shanghai hat sie alle in seiner Macht, lässt ihnen keine Wahl. Stumm wippen sie von einem Fuss auf den anderen, stürzen plötzlich auf die Strasse, streifen, doch berühren einander nicht, prallen präzis wie Magnete aufeinander, gehen wieder hastig ihrer Wege zwischen in den grauschwarzen Himmel ragenden Türmen.

Die Kühnheit der Bauten sprengt jegliche irdische Vorstellung. Man hört sirrende Warnsignale und dumpfe Schläge, wie in einem Hafen. Im harten Licht wirbelt verpestete Luft. Zwischen den Hochhäusern bilden sich Wolken, die der Wind immer wieder zerzaust. Sie sehen aus wie sich im Staub wälzende Elefanten. Eine Frau trägt eine Fischplatte über die ­Strasse. Sie tanzt mit den Autos, trotzt mit rauer Stimme dem Gehupe, schafft es im brandenden Verkehr bis zum gegenüberliegenden Gehsteig. Einige Tage später wird diese Frau eine andere Strasse überqueren. Sie wird dann ein Kind bei der Hand halten oder einen alten Mann, etwas Lebendiges, Gebrechliches, das sie gerade abwesend streicheln wird, wenn sie von einem Minivan gerammt werden wird. Sie wird dann tot sein, oder es wird das Kind oder der alte Mann sein, die man auf die Seite rollt. Man wird ein Laken über sie legen. Eine identische Hausmeisterin wird, den Besen in der Hand, aus ihrem Innenhof zur Strasse schlurfen, ein paar Meter neben der am Boden liegenden Gestalt stehenbleiben, irgendetwas fluchen und rechtsumkehrt machen, um ihre Vögel zu füttern. Wie hier wird es auch dort dieselben von Geländern gesicherten Gehsteige geben, dasselbe emsige und lässige Treiben. Überall Arme, Beine, Leute mit Leitern, Angelruten, Vogelruten, Flachantennen, Macheten, Sonnenschirmen. Millionen von Gesichtern werden weiterhin im Abblendlicht der Autos vorbeiziehen. Hastige, erstickte Schritte auf dem Gehsteig, das Raunen eines sich auf Zehenspitzen bewegenden Volkes. Und hinter abwesenden schwarzen Augen die aufblitzende Kraft täglicher Beharrlichkeit.

Wer nach Shanghai kommt, findet keine Stadt, sondern ein Symbol überhitzten Daseins.

Die Panzerung
Roman / Novelle
ALS BUCH:
Hardcover

Lesebändchen

170 Seiten
Format: k. A.
Auslieferung: ab 15. Dezember 2019
D: 25,00 Euro A: 25,00 Euro CH: 25,00 CHF

ISBN (Print) 978-3-03867-016-2

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Pressekontakt des Verlages:

Ursi Anna Aeschbacher
+41 (0)32 3233631
aeschbacher(at)diebrotsuppe.ch

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