Belletristik
Christoph Meckel
für clarisse. gedichte und radierungen
reihe staben, band 03
Im Rahmen des vielschichtigen Werks von Christoph Meckel bildet die Lyrik das Zentrum und man darf ihn ohne Zweifel zu den bedeutensten Lyrikern der Nachkriegszeit zählen. Nach "Tarnkappe – Gesammelte Gedichte" legt er nun mit "Für Clarisse" einen neuen und ganz besonderen Gedichtband vor. Der Zyklus "Für Clarisse" mit über 60 unveröffentlichten Gedichten und gepaart mit 23 Radierungen ist für ein fiktives Kind geschrieben oder wie es der Autor selbst ausdrückt, für eine Kunstfigur ...
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Verlagstexte
Christoph Meckel, geboren 1935 in Berlin, wuchs in Freiburg im Breisgau auf. Er studierte Malerei und Grafik in Freiburg, München und Paris, seit Mitte der 1950er Jahre arbeitet er freiberuflich als Schriftsteller und Zeichner, legte weit über 100 Bücher vor, wobei "Licht" und »Suchbild. Über meinen Vater" sicherlich zu seinen bekannteren Titeln gehören, und gab mit mehr als 80 Ausstellungen weltweit Einblick in sein bildkünstlerisches Werk. Christoph Meckel erhielt zahlreiche Auszeichnungen und lebt heute in Freiburg und Berlin.
Im Rahmen seines vielschichtigen Werks bildet die Lyrik das Zentrum und man darf ihn ohne Zweifel zu den bedeutensten Lyrikern der Nachkriegszeit zählen. Anlässlich seines 80. Geburtstags in diesem Frühjahr erschien bei Hanser der opulente Band "Tarnkappe – Gesammelte Gedichte", der sein lyrisches Werk auf fast tausend Seiten versammelt.
Schönerweise ist Christoph Meckel immer schon seinen ganz eigenen, unabhängigen Weg im Lteraturbetrieb gegangen und hat sehr häufig mit kleineren Verlagen zusammen gearbeitet. In diesem Jahr ein Glücksfall für den gutleut verlag, sodass wir nun mit "Für Clarisse" einen ganz besonderen Band vorlegen können.
In "Tarnkappe", in der dritten Strophe der "Ballade von den großen Stunden der Kindheit" heisst es:
Fiel mir ein Traum aus allen Wolken,
wenn Rabe bei Rabe, Wasser bei Wasser war
und der Himmel so grau war wie Elefanten –
Dämmrungen an den Ausläufern meiner Schlummer
nahmen mich gegen die Sonne in Schutz,
wenn ich schlafen wollte im Goldpilzgestrüpp,
den Kuckuck im Arm und den Hahn im Herzen,
sicher vor allen Morgensternen.
Ähnlich wie hier, wimmelt es in "Für Clarisse" von Tieren und anderen Gestalten – einige kennt man bereits aus anderen Gedichten des Autors. Wesen, die Kinder begeistern und faszinieren, mitunter beunruhigen und verängstigen oder sie erfreuen und glücklich machen.
Und es wimmelt von "kindlichen" Gefühlen: Freude und Schmerz, Unbekümmertheit, eigenen Naturerlebnissen und Erfahrungen, Entdeckungsfreude, die, die die noch überwiegend unbekannte, fremde Realität durchleuchten und hier in der Poesie aufleben und aufgehellt werden, denn sie kommen von Innen und zwar als Geschenk. Die Gedichte sind aber eben auch von einem Erwachsenen geschrieben, der vorsichtig Dinge und Situationen beschreibt, Zusammenhänge darstellt und mit Rat zur Seite steht. Geschrieben natürlich auch für Erwachsene, für die zumindest, die diese Zeit noch nicht vergessen haben.
Das Schöne an diesen Gedichten ist, sie bleiben in ihrer eigenen Zeit, so scheinen sie gemeint zu sein und scheinen aus sich heraus.
"Für Clarisse" vereint nicht nur über 60 unveröffentlichte Gedichte, sondern auch 23 Radierungen – entstanden zwischen 1970 und 2004.
Diese Radierungen von Christoph Meckel, dessen beachtenswertes und umfangreiches bildnerisches Werk immer ein wenig im Schatten seiner Bücher steht, bilden hier jedoch eines der wesentlichen Kapitel des Buches, denn der Zyklus "Für Clarisse" hat seinen Ursprung in Bild und Gedicht gemeinsam.
"Für Clarisse" ist für ein fiktives Kind gezeichnet und geschrieben worden oder wie der Autor es in einem zweiten Text im Buch beschreibt:
"Clarisse ist ein Kind, und eine Kunstfigur.
Kunstfiguren kommen von weit her, vor allem die Gauner, Spieler und Komödianten, aus wievielen Zwischenräumen realer oder geträumter Biographie, aus wieviel Tagtraum, Nachttraum, Reverie, aus wieviel Erinnerung an wieviel Zeit.
Seit einem halben Jahrhundert schreibe ich und zeichne ich Kunstfiguren, sie besitzen nicht viel außer ihren Namen.
[...] Diese Figuren sind ohne Herkunft, Stammbaum, Stammtisch, Verwandtschaft, Vorfahren und Nachfahren. Sie sind frei von Geburt und Tod, gehören keiner Organisation, keiner Gemeinschaft an (es sei denn der Geschwisterschaft aller Kunstfiguren), sie sind ohne Hierarchie, Nation, Gesetz, bestätigen keine Vormundschaft, keinen Chef, keinen Schinder und keine Religion. Sollten sie einer Nation angehören, ist das ein Zufall ohne Folgen, solange die Gendarmerie sie in Ruhe läßt. Gesetz kann für sie keine Vorschrift sein, es wird nicht befolgt, überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Ihre anarchischen Kräfte, zwielichtig, strahlend, unschuldig oder grausam, erscheinen märchenhaft, unerschöpflich, selbstverständlich wie Schlaf und Vogelschrei, und sind ein Immunsystem gegen Ideologie jeder Art und Abart. Ihre Rebellion kann heiter sein. Fortschritt ist für sie ein Aberglaube und Gewalt ein Irrtum. Sie erscheinen zum Duell mit der Spielzeugpistole und spucken, wie Puschkin, Kirschkerne auf den Gegner. Sie gehn aus Historie und Handlung frei hervor, immer wieder als dieselben.
Eine Kunstfigur existiert allein, ohne Anspruch auf Einsamkeit, Tragik, Schicksal. Es zeichnet sie ein totales Unverständnis aus, was Ehrgeiz, Größenwahn, Mobbing, Karriere und Denunziation betrifft. Sie besitzt keinen Briefkopf und keine Adresse. Ihre Freiheit ist vogelfrei.
[...] Vielleicht wird man wissen wollen, wie und aus was eine Kunstfigur gemacht ist. Ich werde den Teufel tun, für die Frage eine Antwort schustern zu wollen. Kunstfiguren sind Urbilder, Fundamentgestalten, die aus vielen Zeitaltern, aus Welt- und Menschengeschichte zum Vorschein kommen und heute vorhanden sind ohne Triumph und Spektakel.
Wer Clarisse folgt, kommt in einen Raum unverhoffter Unschuld und Freiheit."
Das Buch ist durch seine Geschlossenheit, die Leichtigkeit und Schwermut miteinander vereint, ein besonderes Buch in Christoph Meckels Werk, zudem mit zwei weiteren Texten, dem Abbildungsteil mit Altarfalz sowie Plakatumschlag sorgfältig ausgestattet und gestaltet.
Presse- und Autorenstimmen
Mit "Für Clarisse" erscheint ein halbes Jahr nach den "Gesammelten Gedichten" ein neuer Band von Christoph Meckel. Clarisse nennt Christoph Meckel eine Kunstfigur, es sind Gedichte an ein fiktives Kind. Ergänzt wird der Band durch 23 Abbildungen von Radierungen aus den Jahren 1970-2001 und hier großzügig im Altarfalz abgedruckt und durch einen Plakatumschlag mit zusätzlichen Text ergänzt.
(http://www.lovelybooks.de/autor/Christoph-Meckel/F%C3%BCr-Clarisse-1198122765-w/
)Textprobe(n)
Bonjour Clarisse
Ein Sonntagsgruß
für den Montag,
der am Dienstag in Erfüllung geht,
am Donnerstag ausschläft,
den Mittwoch verschlafen hat
und am Freitag nachholt,
der dem Samstag zuvorkommt
und sich auflöst am Sonntag
in Luft und Liebe.
Als ich noch jung war.
– als ich noch jung war,
saß ich im Tor, mein Äffchen
holte die hingeworfenen Groschen
und brachte, von weit
Brotkanten, Knochen
und Haare, Finger,
Schuhe voll Blut – und dann
wird es Wein und Honig bringen,
Blumen, Flügel, Diamanten –
Adieu
Das Meer
wurde in die Luft gesprüht
Azrael reiste ab
mit Containern voll Knochen
Trauermäntelchen
flog in den Stein
verschwand für immer.
Das Unsichtbare nimmt zu
wer geht kommt nicht wieder.
Nachsatz
Wer ist Clarisse. Clarisse ist ein Kind, hat diesen einen Namen und jedes Alter zwischen dem fünften und dem achtzehnten Jahr. Sie hat keine Herkunft – ich bin nicht ihr Vater, Bruder, Geliebter –, gehört in keine Gesellschaft, Nation oder Schule, hat keinen Besitz und vermißt nichts. Sie ist eine Kunstfigur, die ich erfunden, ich weiß nicht wie geschaffen, das heißt zuerst gezeichnet habe, Clarisse, für die ich seit ein paar Jahren Bilder zeichne und Gedichte mache.
Sie bekommt die Gedichte von mir geschenkt, sie scheint sie zu mögen, jedenfalls zu beachten und zu lesen, weil sie für sie gemacht sind, legt die Papiere in ein Kästchen, vergißt sie vor dem Spiegel, findet sie wieder auf dem Tisch, freut sich darüber und lacht. Ein paar Gedichte habe ich ihr zu früh gegeben, sie ist erstaunt über diese fremden Sachen, aber das sagt sie nicht, sie liest sie später noch mal. Sie ist nie auf den Gedanken gekommen, eine Zeichnung, ein Gedicht könne ihr fremd sein. Fremd ist ein Wort, das sie nicht kennt. Sie mag den Kuckuck lieber als die Krähe, aber deshalb ist ihr die Krähe nicht fremd. Gedichte sind für Clarisse ganz gewöhnliche Sachen, sie geht mit einem Vers um wie mit einem Kamm, einem Handspiegel, einer Blume, wie mit einer Münze aus Blech oder Silber: sie ist da. Daß Gedichte Literatur sind, und, wenn sie sehr gut sind, Kunst sein können, habe ich ihr nicht gesagt. Wenn sie davon erfährt, wird es früh genug sein. Sie hat dann Gedichte schon gelesen, sie besitzt ihre eigenen, kennt eine Zahl par coeur und weiß es besser, wenn jemand ihr sagen sollte, daß Gedichte keinen Sinn haben, keine Bedeutung, überhaupt keinen Wert. Manchmal stellt sie eine Frage, ich antworte ihr mit einem Zitat, einem Hinweis, einem kurzen Bericht, erkläre aber wenig und verrate nichts. Vielleicht ist dies der Grund, daß sie mir glaubt. Dies wiederum kann der Anlaß sein, immer wieder Gedichte und Bilder für sie zu machen.
Wie hätte ich Clarisse erschaffen können, ohne Zärtlichkeit für sie zu empfinden. Ich habe sie dem Tod weggenommen. Eine Kunstfigur kann vergessen werden, aber sie stirbt nicht. Ihr Dasein verkündet in der vernunftlosen Nacht durch eine kleine Grille wieder die Gültigkeit des Unverhofften.
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für clarisse. gedichte und radierungen
Lyrik
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ALS BUCH:
Broschur
140 SeitenMit Plakatumschlag
Format: 130 x 186 mm
Auslieferung: ab September 2015
D: 24,00 Euro A: 26,00 Euro CH: 29 CHF
ISBN (Print) 978-3-936826-74-6
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