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In der Nahaufnahme verwildern wir

Belletristik

Rolf Hermann

In der Nahaufnahme verwildern wir

Ausgehend von vier Zyklen, die Rainer Maria Rilke am Ende seines Lebens im Château Muzot im Wallis auf Französisch geschrieben hat, zoomt Rolf Hermann mit seinen neuen Gedichten mitten hinein in unsere Lebenswelt. Lustvoll und zärtlich, formbewusst und unverwechselbar im Ton.

Verlagstexte

Ein rauschhaftes, urbanes Langgedicht, in dem die Ampeln sinnentleert blinken und die Zufallsbegegnung mit einem Tier die Hoffnung auf eine Verschmelzung von Mensch und Natur nährt. Ein Bildschirm, der glimmt, ein Fenster, das aufpoppt – und die Zeilen werden zu einem Eintrittsort, zu einer Schnittstelle zwischen Virtualität und unmittelbarer Erfahrung. Anderswo schleudern Neophyten ihre Samenkugeln durch die Luft und breiten sich rasend schnell aus: ein brasilianisches Tausendblatt, ein Götterbaum, ein Schmetterlingsstrauch. Und schliesslich ein Gang durch einen längst verschwundenen Obstgarten, in dem selbst die Luftpartikel träge geworden sind ob ihres uralten Gewichts.

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© Cover: Verlag, Foto(s): Simone Haug

Presse- und Autorenstimmen

Zoomt eine Welt heran, die den Menschen überleben wird.

(

Luzerner Zeitung

)

Textprobe(n)

als hätte ich mein leben
auf einem vergessenen waldpfad verlassen
ohne abschied
absichtslos
und mit jedem schritt
den ich ginge
wüchse in meinem rücken
die dämmerung
schwärmte aus
umkreiste mich
sammelte und ballte sich
zu einer übergrossen schwarzblauen traube
die unstet auf meinen lidern pulsierte
und mein mund malmte
die gallertartige luft verschwundener himmel
und die stofflichkeit der tage
und jahre zerfiele
wie kringelnde staubfäden
in nachtschattigen kelchen
nun
tage
oder jahre später
weicht das gewicht
des dämmerschwarms
von meiner stirn
sanft entriegeln sich die lider
ein tauen geht durch die augen
ich erahne den raum
aus dem die zeit entwichen ist
wie luft aus einer lunge
die nicht mehr atmet
die stillstand
und stillsteht


eine bruchstelle
dehnt sich aus in mir
konkav
krallt sich ein
schweift aus
spreizend
bis in die zehen
bis zur scheitelkuppe
und darüber hinaus
dividieren die dinge sich
im ersten aufguss des lichts
als wäre ich im innern
eines funkelnden stundenglases
in dem der sand
zu rieseln beginnt
und ich riesle mit
falle durchs glas
reibe mir den sand
wiederholt aus den augen
auch diese
sind nun ganz aus sand
schlafsand
traumsand


meine pupillen justieren sich
im rieselnden reigen
aus korn und licht
das meine stirn überschwemmt
und mir ist
als suchte etwas in mir das weite
wie eine schwalbe
eine mehlschwalbe
die im schwarm
das sandige ufer verlässt
wenn das wasser steigt
zurück bleibe ich
spiegle mich
im feuchten sand
und was ich sehe
sind die konturen
meiner einsamkeit


im stehenden licht
das durch die zwischenräume
der lamellen fällt
irisieren staubpartikel
die erwachende kammer
in flottierende schichten
winzige leuchtkäfer
fireflies
denke ich
und werfe die decke zur seite
multipliziere
die nomadisch schwankenden insekten
aus feuer
aus licht


und mir träumte von pferden
die schliefen in der koppel
und mir träumte von hunden
die schliefen im hof
und mir träumte von tauben
die schliefen unterm dach

In der Nahaufnahme verwildern wir
Lyrik
ALS BUCH:
Hardcover
176 Seiten
Format: 150 x 210 mm
Auslieferung: ab 30. Oktober 2021
D: 23,00 Euro A: 23,70 Euro CH: 29,00 CHF

ISBN (Print) 978-3-03853-116-6

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