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Jenische Reise

Belletristik

Willi Wottreng

Jenische Reise

Willi Wottreng malt in prachtvollen Episoden die Reise der bald tausendjährigen Anna von Lothringen nach Ungarn, über Antwerpen bis nach Thessaloniki und tief in die Schweizer Alpentäler hinein. Eine Reise durch die Jahrhunderte.

Verlagstexte

Anna ist eine Jenische. Im Volksmund und bei den Sesshaften despektierlich "Fahrende, Zigeuner oder gar Vaganten" geheissen.

Jenische Reise oszilliert im Zwielicht zwischen Phantasie und Wirklichkeit, ist ein flirrender, aus tausend Fäden gewobener Bildteppich zur legendensprühenden Kultur jener Menschen, die heute in Europa eine grenzüberschreitende Volksgruppe bilden: Die Jenischen.

Willi Wottreng erzählt die jahrhundertealte Geschichte dieser wenig bekannten Minderheit, wie sie so noch nie erzählt wurde. Eine Hommage an die Menschen der Strasse, die nie Eigentum hatten, in Armut lebten. Armut ist der Boden, auf dem Europa sich herausbildete. So leistet Wottreng noch viel mehr. Jenische Reise ist eine europäische Geschichte: Europas Geschichte von unten.

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© Cover: Verlag, Foto(s): Ayse Yavas

Textprobe(n)

Wenn ich auf dem Bett stehe und in den engen Raum blicke, sehe ich mein Publikum nicht, denn niemand ist da. Manchmal schaut ein Pfleger oder eine Pflegerin herein. "Wie geht es Ihnen, Anna", fragen sie mit säuselnder Stimme, "was plaudern Sie denn wieder vor sich hin, haben Sie so viel zu erzählen?" Gut geht es mir, gut. Es ging mir immer gut in all den Jahrhunderten.
Ob wir Glück haben oder Unglück, unsereins geht es gut. Gleichmut ist unsere Stärke. Das haben wir gelernt, Eigensinn und Gleichmut. Im Leid suchte ich immer Abstand zu meinem Unglück und in der Freude Abstand zu meinem Gleichmut. Denn das Glück habe ich stets hemmungslos genossen. So kannst du überleben.
Ums Überleben geht es bei dem, was ich euch erzähle. Dir, mein Schutzengel, der du auf dem Sims vor dem Fenster hockst und mich behütest.
Euch, meine nicht anwesenden Zuhörerinnen und Zuhörer. Meinem Volk. Meinen Kindern und Kindeskindern und so fort. Oder in meiner Sprache: Freier, Schiige, Galmeli, ich erzähle euch die Geschichte meines Volkes. Ich bin alt und weiß alles, hab alles gehört und erlebt. Ich bin die jenische Anna und habe schon bald ein Jahrtausend gelebt. So ist das.
Das Hupen draußen auf der Straße bestätigt mir, dass ihr mir zuhört.
Wenn Jenische an der Anstalt vorbeifahren, grüßen sie ihre Leute mit einem doppelten Hupen. Seid zurückgegrüßt.
Ein unbekanntes Volk sind wir, das allmählich aus dem Nebel hervortritt, der es lange eingehüllt hat. Viele kennen nicht einmal das Wort: Jenische. In Wien, Paris, Berlin, London hat kaum einer es je gehört. Allenfalls sagen sie, wir seien Zigeuner. Sollen sie. Dabei waren wir Jenischen immer da. Auch in Wien, Paris, Berlin, London. Wir sind über ganz Europa verteilt. Uns gibt es überall. Und eben nirgends. Von uns liest man nicht in den Büchern, in den Schulbüchern schon gar nicht. Wir tauchen vielleicht als Randbemerkung, Fußnote oder Anekdote auf. Würde man die Bücher anders lesen und mit den Fußnoten beginnen, wüsste man, wer wir sind.
Der Bodensatz der Geschichte. Das Moor, aus dem das Festland entstand. Alles, was von unten kommt. Die Jenischen, die weder Roma noch Sinti sind, weder Manouches noch Kalderascha oder wie die alten Kulturvölker heißen. Wir leben nicht nach althergebrachten Ritualen, wir sprechen keine voreuropäische Sprache, wir haben keine aztekischen Gesichter, unsere Haut ist nicht bronzefarben, und unsere Haare sind nicht schwarz. Wir leben im Heute und verändern uns dauernd. Immer wieder tauchen wir auf, man weiß nicht genau, von wo. Immer wieder verschwinden wir, wer weiß wohin?
Darum haben meine Erzählungen keinen Anfang und kein Ende und sind doch miteinander verbunden. Geschichten wie Girlanden von Lampions, die unseren Weg beleuchten.
Wer klopft da an der Tür? Ja, Schwester, es geht mir gut, danke. Ich brauche keine Hilfe. Ich bin pflegeleicht. Nein, mir ist nicht kalt im Nachthemd.
Wo war ich stehen geblieben? Ach ja. Ich will euch die Geschichte der Jenischen erzählen, wie sie allmählich zu dem wurden, was sie heute sind, wie sie ihr Haupt erhoben, es ist die jahrhundertealte Geschichte von Menschen, die kein Eigentum haben. Ohne Eigentum ist man beweglicher im Leben. Andere nennen das Armut. Ich erzähle also auch die Geschichte der Armut. Und die Geschichte Europas. Denn Armut ist Europas Geschichte von unten. Es ist eine reiche Geschichte. Armut ist der Topf, aus dem wir unsere Erzählungen geschöpft haben, auch wenn keine Suppe da war.
Ja, gewiss, Schwester, noch einmal, es geht mir ausgezeichnet. Ich habe von Suppe gesprochen. Nein, ich habe keinen Hunger, auch wenn ich heute Mittag nichts gegessen habe. Ich lebe von Erinnerungen und von meinen Erzählungen.
Zum Glück ist sie wieder gegangen. Ach, Fürsorge und Überwachung, wie nahe liegt das zusammen. Ich spreche nur von uns einfachen Leuten. Die anderen sind die Könige und Kaiser, Bischöfe, Päpste und Generäle, die in meiner jenischen Saga in
die Fußnoten verbannt werden. Für unsereins spielten sie meist keine Rolle. Außer wenn sie ihre Soldaten schickten – oder die Seelensoldaten, die sich Psychiater nennen – und uns ausnahmsweise einmal zu einer Friedensfeier einluden, zu Bier, Wurst und Zuckerwatte. Wir brauchten sie so wenig, wie sie uns brauchten. Die Daten ihrer Krönungen, Schlachten, Konferenzen, Heiraten, Verträge und Eroberungen sind uns egal. Jahreszahlen sind Erfindungen von Halt suchenden Lebewesen, die nicht mit dem Lebensfluss gehen. Erfindungen von Bürgern, die Uhren brauchen. Wir tragen Uhren nur zum Schmuck. Wir leben kein von Agenden bestimmtes Bürgerleben. Wir leben den Tag. Wir zählen nicht die Jahrzehnte oder Jahrhunderte, wichtig sind uns in jeder Stunde die Nächsten, die Kinder und die Eltern, die Cousins und Cousinen, wichtig sind uns Gesundheit, Arbeit und Vergnügen. Unsere Geschichte besteht aus: Lieben, Kinder haben, Weggehen, Neu anfangen, Lieben und Kinder haben. Und sterben. Das ist der ewige Kreislauf. Darum gleichen sich alle Erzählungen, die von Menschen handeln.
Das werde ich euch erzählen. Ich zeige euch die andere Geschichte Europas. Die reiche Geschichte der Armut. Die vielen Geschichten des jenischen Volkes.
Wenn ihr etwas davon behalten wollt, merkt euch den Buchstaben A: Armut, Arbeit, Anerkennung. Und Anna, das bin ich.
Ich mache es wie die Tarotlegerin. Ich zeige euch eine Karte aus dem Stapel der Jahrhunderte. Ich erzähle euch dazu meine Erinnerungen, meine Träume, mein Wissen und alles, was mir mein Schutzengel sonst noch einflüstert.
Denn er war immer dabei. Und wieder eine Karte und wieder eine.
Also setzt euch. Setzt euch um das Feuer, das ich für euch anzünde, und hört den Geschichten zu, nach jenischer Art.
Nein, Schwester, nicht schon wieder! Keine Angst, nein, sicher, ich mache kein Feuer. Sie sehen doch. Ich habe gar kein Feuerzeug, um die Wolldecken auf meiner Bettstatt anzuzünden. Ich stehe da im Hemd.

Jenische Reise
Roman / Novelle
ALS BUCH:
Hardcover

mit Lesebändchen

211 Seiten
Format: k. A.
Auslieferung: ab 30. September 2020
D: k. A. A: k. A. CH: 30,00 CHF

ISBN (Print) 978-3-03762-087-8

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