Belletristik
Vincent O. Carter
Meine weiße Stadt und ich. Das Bernbuch
Übersetzt von pociao, Roberto de Hollanda
1944 als Befreier bejubelt, will ihm, dem Schwarzen, sieben Jahre später kaum jemand ein Zimmer vermieten. So gelangt er über Paris, Amsterdam und München nach Bern. Über diese Stadt, die weißer ist als irgendeine amerikanische Stadt, schreibt Vincent O. Carter ein Buch, das der Welt von damals "nicht schwarz genug" war: Nach 50 Jahren ist es bei Limmat erstmals auf Deutsch erschienen, übersetzt von Pociao und Roberto de Hollanda.
Andere Titel des Verlags bzw. der Autorin/des Autors
- Am Meer dieses Licht
- Blindgänger
- Brief an meinen Vater
- Cap Arcona 1927–1945. Märchenschiff und Massengrab
- Das Lied der Einsamkeit
- Der Boden unter den Füßen. Eine Fantasie
- Der Froschkönig
- Der Raum zwischen zwei Wörtern / L’espace entre deux mots
- Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt
- Die Brille des Nissim Nachtgeist
- Die Schneckeninsel
- Die Vermengung
- Die schiere Wahrheit
- Elefanten im Garten
- Fern von hier
- Hermann Hesse, Seine Welt im Tessin – Freunde, Zeitgenossen und Weggefährten
- Immer ist alles schön
- In der Fremde sprechen die Bäume arabisch
- Jeder Krüppel ein Superheld
- Mit Dir, Ima
- Nelkenblatt
- Paris 1959
- So weit die Stimme reicht / A portée de la voix
- Spiegelschrift
- Staatsräson
- Wenn die Nacht in Stücke fällt
- Wurzelstudien
- Zehn unbekümmerte Anarchistinnen
Verlagstexte
1944/45 hatte er als umjubelter GI Europa befreit; als er Jahre später wiederkommt, um sich in Paris als Schriftsteller niederzulassen, will man ihm nicht mal ein Zimmer vermieten. 1953 lässt er sich in Bern nieder, wo er als Schriftsteller und Englischlehrer arbeitet. Verlässt er das Haus, ist er jederzeit auf die ihm verhasste Frage gefasst: Warum bist du nach Bern gekommen? Und so macht sich Carter in seinem Buch auf, diese Frage, die an seinen "Grundfesten rüttelt", zu bewältigen. In immer neuen Anläufen erzählt er, warum er nicht in Paris, Amsterdam oder München geblieben ist, erzählt aus seinem Leben in Bern, wo ihn alle anstarren, von Geldsorgen, Liebesgeschichten, Reisen, Wohnungssuche, Kindheitserinnerungen aus Kansas City. Mit so unzerstörbarem Humor wie hartnäckigem Engagement und voller Ambivalenz allem Menschlichen gegenüber geht er dem Rassismus auf den Grund, der Verschiedenheit der Menschen, dem Fremdsein des Individuums in der Gesellschaft. Und zeichnet dabei ein scharf beobachtetes Porträt seiner Zeit, seiner Gesellschaft und seiner Stadt – ein schwarzer Ethnologe in einer weissen Stadt in einem weissen Land.
Presse- und Autorenstimmen
Carters Blick auf Bern und seine Bevölkerung geht weit über eine oberflächliche Kritik am herrschenden Puritanismus hinaus: Er seziert Phänomene wie die Unterdrückung der Frau, die Zerstörung der Landschaft, die Sanierung und Aushöhlung der Gebäude in der Altstadt und den zwiespältigen Umgang der Schweiz mit ihren Künstlern, Literaten und Architekten.
(Der Bund
)Textprobe(n)
Egal, ob ich im Mövenpick oder im Casino bei einem Glas Wein die Zeit vertrödele oder mit Freunden zu Abend esse, selten vergeht eine Woche, in der mich nicht jemand, den ich gerade erst kennengelernt habe, mit einem Schwall von Fragen konfrontiert. Mit den meisten komme ich ziemlich gut zurecht. Er fragt: "Ist dir nicht kalt?", wenn es Winter ist und: "Bist du nicht froh, dass die Sonne scheint?" – wenn sie tatsächlich scheint, was leider nur selten vorkommt. Im ersten Fall antworte ich: "Ja", und im zweiten: "Und ob!" Sie fragt: "Seit wann bist du denn schon in der Schweiz?"
"Oh, jetzt sind es ungefähr dreieinhalb Jahre …", sage ich.
"So lange!", ruft sie aus, und ich versuche, so überrascht zu lächeln, wie es für ihren Ausruf gerechtfertigt erscheint.
Bei weniger günstigen Gelegenheiten fragt Es misstrauisch, mit nervös zuckendem Mund oder einem Lächeln, das so etwas wie eine halbwegs schüchterne Entschuldigung sein ‚könnte: "Wie gefällt es dir denn hier?" Ich halte kurz inne, um die Spannung zu steigern, und das Lächeln verstärkt sich.
"Oh … ganz gut …", kommt es aus meinem Mund, als würde Er, Sie oder Es die erwartete spöttische Bemerkung abtun, noch ehe ich sie ausgesprochen habe.
Danach plätschert das Gespräch noch eine Weile weiter, doch entgeht mir nicht, dass mein Gesprächspartner unzufrieden ist. Er ist selten oder noch nie einem echten schwarzen Mann begegnet. Er hat jedoch viel gehört und sich viel gewundert. Er kennt Negrospirituals, hat den einen oder anderen gehört und ist ein glühender Jazzfan. Er mustert mich so unauffällig er kann und vergleicht den klaren eindeutigen Eindruck vor seinen Augen mit all den Bildern, die er in seinem bisherigen Leben gesehen oder gehört hat. Schließlich riskiert er eine weitere Frage:
"Bist du Musiker?"
"Nein", erwidere ich – frostig.
"Student?", bohrt er weiter und registriert jetzt auch meine uralte Aktentasche, ohne die er mich nur selten gesehen hat.
"Nein, ich bin kein Student", antworte ich leicht gereizt, aber nicht wirklich unfreundlich. Das ist mir schon oft passiert. Ich bin nur gereizt, weil mir langsam die Fantasie ausgeht und ich befürchte, dass ich meine Geschichte nicht interessant genug erzählen kann. Er ist so neugierig, erwartet offensichtlich so viel, so viel mehr, als ich ihm jemals bieten könnte. Das macht mich traurig.
"War bloß so ein Gedanke. Die Stadt ist ja voll von Medizinstudenten."
"Oh, nein … nein …", entgegne ich mit einem unbehaglichen Lächeln, weil ich das Gefühl habe, dass ich ein bisschen schroff war. Dass ich alles nochmal durchmachen und mir den Kopf zerbrechen muss, um einen anderen Weg zu finden, es ihm zu sagen, und da ich keinen finde, leide ich jetzt selbst, weil er nicht einfach direkt danach fragt.
Das Gespräch plätschert weiter vor sich hin. Er hofft, auf Umwegen dahinterzukommen, denke ich, gerührt von seiner Diskretion. Aber ich will auch nicht selbst indiskret werden, indem ich freiwillig Informationen rausrücke, um die er mich nicht gebeten hat.
"Wie gefällt dir Bern?", fragt er, als das Gespräch zu verebben droht. "Oh, ganz gut", antworte ich, ein wenig dankbar, dass wir endlich zur Sache kommen. Mittlerweile hat er mitbekommen, wie ich mich mit einem der jungen Männer, die an unserem Tisch sitzen, für morgen um zwei Uhr verabredet habe. Bevor er sich verabschiedete, hatte er zehn Uhr vormittags vorgeschlagen, das Treffen dann aber auf zwei Uhr nachmittags verlegt. Er hatte vergessen, dass er um zehn ein Seminar hat. Nachmittags um zwei sind fast alle Leute in Bern bei der Arbeit.
"Du scheinst ja viel Freizeit zu haben", bemerkt mein neuer Bekannter und lächelt nervös. "Hast du ein Glück, dass du nicht ins Büro musst." Er meint zum Arbeiten.
"Ich kann ja nicht nur schreiben!", sage ich schließlich.
Da leuchtet sein Gesicht plötzlich auf.
Schreiben? Was schreiben?, höre ich ihn für den Bruchteil einer Sekunde denken; dann fragt er: "Bist du Journalist?"
"Nein", sage ich.
"Er schreibt Geschichten!", erklärt der Freund, der ihn mir vorgestellt hat, ein bisschen ungeduldig. An diesem Punkt zünde ich meine Pfeife an und versuche, mir einen Anfang auszudenken, denn gleich wird die Frage kommen, die ich nicht mag, weil sie so schwer zu beantworten ist. Trotzdem bin ich dankbar für die kurze Zeit, die mir die Beantwortung dieser Frage schenken wird, denn die danach wird an meinen Grundfesten rütteln!
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Meine weiße Stadt und ich. Das Bernbuch
Roman / Novelle
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ALS BUCH:
Hardcover
440 SeitenEinband auf Leinen gedruckt
Format: k. A.
Auslieferung: ab 27. Oktober 2021
D: 29,00 Euro A: k. A. CH: 34,00 CHF
ISBN (Print) 978-3-03926-009-6
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Der Verlag im Netz:
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kuenzli(at)limmatverlag.ch
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