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Nur die Knochen bitte. Eine Übergabe

Belletristik

Kerstin Kempker

Nur die Knochen bitte. Eine Übergabe

Das dritte Buch von Kerstin Kempker bei Nimbus: «Nur die Knochen bitte». Wem es bislang entgangen ist, welch besondere, eigenständige literarische Stimme hier spricht, kann es bei diesem neuen Buch auf leichte, bezaubernde Weise entdecken.

Andere Titel des Verlags bzw. der Autorin/des Autors

Verlagstexte

Es ist die Sehnsucht vieler: Gelegenheit zu einer Auszeit zu erhalten, Ruhe zu finden, Inventur zu machen. Genau dies ist das Thema von Kerstin Kempkers neuem Buch. Auch wenn sie darin nirgends "ich" sagt, ist es ihr bislang persönlichster Text. Die Erzählerin, die sich mit sanfter Selbstironie "das alte Mädchen" nennt, hat ein Stipendium in der Pfalz erhalten. Im Vorfrühling trifft sie dort ein – eine Städterin, die nun auf eine ruhige, ländliche Szenerie hinausblickt: Rebhänge, noch unbegrünt, Hügelzüge am Horizont. Das Leben hat ein anderes Tempo hier: Was sich ereignet, wird nicht sofort wieder verschluckt vom permanenten Wechsel der Geschehnisse und zeichnet sich spürbarer in die Wahrnehmung ein.

Die Eindrücke, Lichtspiele, Gerüche und Objekte der neuen Umgebung lösen Assoziationen zu Vergangenem aus. In der Erinnerung beginnt es "Memory" zu spielen: Wozu gehört dieses plötzlich aufgetauchte Bild oder jener verloren geglaubte Gedanke? Wie war das mit all den früheren Veränderungen, Umzügen, Neuanfängen? Ein Sortieren und Aufräumen setzt ein. "Schnipsel einsammeln", lautet die Devise, "Scherben zusammenkehren". Säuberliche "besenreine Übergabe" als Utopie. Es ist ein Prozess der inneren Reinigung: "Das große Loslassen, da liegt es, die wenigen Gewissheiten legt sie dazu, gibt alles auf. Diese seltsame Sicherheit, trotzdem nicht verloren zu sein."

Der Text wird umrahmt und begleitet von fast vierhundert kleinen quadratischen Piktogrammen, die Paula Kempker, die Tochter der Autorin, gezeichnet hat. Alle zeigen sie konkrete Dinge, kleine Inventarstücke des Lebens: Hand und Fuß, Baum und Busch, Tür und Fenster, Wasser und Schnee – Bausteine der Wahrnehmung, das Genom der Erinnerung: zart, liebevoll und heiter. Ein wunderbar poetisches Buch in Wort und Bild.

Downloads

© Cover: Verlag, Foto(s): k. A.

Presse- und Autorenstimmen

So dürften heute viele Menschen fühlen; und solcher Empfindung verschafft Kerstin Kempker den gültigen, den unsentimentalen Ausdruck.

(

Burkhard Müller, Laudatio, New-York-Stipendium des Deutschen Literaturfonds

)

Selbst die Bürokratie wird bei Kempker zur Poesie.

(

Pia Soldan, Am Erker, Mai 2015

)

... ungebremst fließende, metaphorische Sprachgewalt ...

(

Clara Koisser, Schreibkraft

)

Textprobe(n)

Kehrte sie an den Anfang zurück, müssten Dinge und Menschen geduldiger sein, als sie können. Sie käme ja, um nachzuschauen, ob in der Freiligrathstraße Krämer Brockt noch immer kerzengerade im Kittel an der Kasse steht und seine Kinder noch immer am Samstagabend im Fenster liegen, um gegenüber die badenden Kinder zu sehen; und sie würde die Kurve suchen, wo ihr Bruder wie durch ein Wunder die rasende Abfahrt auf dem Dreirad überlebte, und im Hof die Mauer, dahinter die Nonnen, die sie zum Fluchen brachte. In Cronenberg suchte sie das Schluffenkino und griffe in der Auslage der Bäckerei Evertsbusch nach dem Gusszwieback vom Vortag. Der Weg zum Kirmesplatz hinter ihrem Haus wäre so steil, dass sie mit dem Schlitten in Stacheldraht sauste. Sie suchte süßen Trost beim Imker und seinem Ferienkind, das Wort Scheidung gäbe es nicht, und süßen Schauder bei Frau Becker, die ihre Falltür öffnete, um Zigarettenbilderbücher vom Krieg zu zeigen, und bei ihrem Sohn, dem Soldaten, der mit dem Boxerhund boxte. Oben am Möschenborn führten unbefahrene Gleise ins Dickicht, dort sirrte die Metallfabrik und spuckte Berge gekringelter Späne vor ihre Tore, Späne, die weh täten und glitzerten wie Lametta. Um das alles noch einmal zu tun und zu prüfen, auch das weißgestrichene Mäuerchen, das jugoslawische Gastarbeiter schwarz in die Holzschalung gossen, die handgeschmiedeten Gitter, mein Schmied, der ganze Stolz der Mutter, die Falle, in die sie, die Heulsuse, von ihrer besten Freundin Annette und deren bester Freundin mit einer Heuschrecke getrieben wurde, und die andere Falle, wo jeden Morgen aus dem Nichts vor ihr der Schäferhund stand. Dann brächte die Straßenbahn sie am Rathaus vorbei, die Eisdiele, mit sechs Eistüten fuhr der Vater freihändig Auto, die lose Kirche, die Schieferhäuser, die Volksschul-Baracke, auch daran vorbei, bis hinter die Bahnschranke, wo Schulrektor Schnepp wohnte mit seiner gescheitelten Tochter, und auf der anderen Seite, ziemlich verschwommen, das Freibad und Felicitas, ihre rotleuchtenden Locken und runtergerutschten Strümpfe. Zu Fuß ginge sie dann zwischen Schule und Himbeer-Pfarrer unter der Bahnbrücke hindurch und den Berg hinunter, klingelte dort beim Geigenlehrer, fleckige Hände schlügen rohe Eier in den Kaffee, bis seine Frau ihr öffnete und der kleinen Geige im schwarzen Kasten ein Filztuch mit Blumen bestickte. Das Bergische Land, uraltes Schuppentier, glänzt wie frisch nach dem Regen. Wie es klingt und riecht, weiß sie ohne ein Wort.

Einfache erste Sätze, sie betrachtet sie gern: Mutter meldet ihre Kinder als Tiere an. WM-Zuschauer tötet entnervt sein Kind. Der Sohn legt Feuer, die Mutter filmt. Raben trösten Prügelknaben. Krähen hacken Passanten in Kopf und Nacken. Hunderte Schafe springen in den Tod. Ihr schönster ist: Der Einfall, die Familie zu erschießen. Sie streicht ihn glatt: Aus dir wird noch mal was.

Nur die Knochen bitte. Eine Übergabe
Roman / Novelle
ALS BUCH:
Hardcover

Halbleinen, Fadengebunden

112 Seiten
Format: 135 x 190 mm
Auslieferung: ab 1. September 2015
D: 19,80 Euro A: k. A. CH: 22,00 CHF

ISBN (Print) 978-3-03850-016-2

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