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Sieben Jahre mit dem Japaner

Belletristik

Christine Rinderknecht

Sieben Jahre mit dem Japaner

Was wissen wir über uns selbst, über einander, über die stimmlosen Dinge, die uns begleiten? Was kann über einen Menschen nach langer Zeit herausgefunden, gesagt, gezeigt werden, was bleibt für immer im Dunkeln?

Verlagstexte

Erinnern – Suchen – Fragen – Finden – Erfinden. Am Anfang steht ein goldenes Kästchen, ein sogenanntes Takamakie-Lackkästchen. In den frühen Tagen des 20. Jahrhunderts in einem kleinen Geschäft in Kyoto erworben, wird es zusammen mit diversen Bücherkisten, gesammelten Kunstgegenständen und der Garderobe seines Besitzers eingeschifft und gelangt auf dem Seeweg nach Antwerpen, von dort weiter in ein kleines Dorf im Schweizer Fricktal, wo es auf einem staubigen Dachboden landet.

Einige Jahrzehnte später steht es auf der Frisierkommode einer jung verheirateten Frau, wo es die Neugier eines kleinen Mädchens weckt. Das Mädchen wird zur Frau, die Frau macht sich, wieder Jahrzehnte später, daran, seine Geschichte zu erzählen. Wieder reist sie durch die Jahrhunderte, nur diesmal in umgekehrter Richtung, reist nach Paris, Rouen, Moskau und kommt schliesslich in Kyoto an. Sie sucht die Straßen, durch die ihr Großonkel Wilhelm, der Besitzer des Kästchens, noch mit der Rikscha fuhr. Sucht seine verhallenen Schritte, seine vermuteten Gedanken, erschließt seine Beweggründe. Was sie findet, bleibt bruchstückhaft, wird fassbar und entzieht sich wieder. Doch jedes einzelne Dokument und jede zufällige Begegnung sind prall gefüllt mit Leben.

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© Cover: Verlag, Foto(s): Heinz Gubler

Textprobe(n)

Wir wollten die Geschichten hören. Er sei Kupferstecher gewesen und habe gut zeichnen können. Nur mit einem Fünfliber in der Tasche sei er nach seiner Lehrzeit von zu Hause fortgegangen. Nach Paris. Bis er eine Arbeit fand, habe er unter Brücken geschlafen. Das erzählten unsere Mütter beim Bügeln, während wir mit dem Kinderbügeleisen die Taschentücher unserer Väter bügelten. In unseren Köpfen sahen wir, wie in der Nacht die Mäuse und Ratten an Wilhelms Schuhen nagten. Bei der Weltausstellung in Paris habe er eine Bronzemedaille bekommen. Unsere Mütter wussten nicht wofür. Niemand wusste es. Wir konnten uns das nicht zusammenreimen. Dieser arme Wilhelm unter den Brückenbogen und die Bronzemedaille, die sonst nur Skifahrer, Hochspringer oder Schwimmer erhielten. Wir übten Handstand, das Rad, die Brücke, den Spagat. Wir quälten uns auf dem frisch gemähten Rasen, der nach Sommer roch. Wir wollten auch eine Medaille gewinnen, wie unser Wilhelm, wir wollten so werden wie er. Er habe in Rouen gearbeitet, in Moskau, in Japan. Japan wurde unser Wunderland, während wir, die Töchter unserer Mütter, bügelten und Dampf aufstieg und der Geruch der warmen Wäsche sich mit den immer gleichen Geschichten vermischte. In den Erzählungen unserer Mütter gab es Kriege: Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, und es gab vor dem Krieg und nach dem Krieg. Im ersten Krieg, das haben unsere Mütter von ihren Müttern erzählt bekommen, kehrte Wilhelm abgerissen und kaputt nach Hause zurück. Dass er Russisch konnte, habe ihm das Leben gerettet. Darum war es für unsere Mütter wichtig, dass ihre Kinder Sprachen lernten. Eine Sprache war wie ein Rettungsring. Im zweiten Krieg war Wilhelm in Italien. Montecatini hiess der Ort. Er habe für die Deutschen übersetzen müssen, erzählten die Mütter, weil er so viele Sprachen konnte. Er habe das nicht freiwillig getan, sei krank geworden, habe einen Brief nach Hause geschickt, man solle ihm Honig und Hagebuttenmus schicken. Das Paket kam heil an, und unser Wilhelm wurde wieder gesund. Zum ersten Krieg gehörte auch, dass er heiratete, Ottilia Josefa, eine schmale junge Frau, sie war erst 21 Jahre alt, und er schon fast 50. Wir schauten uns das Hochzeitsfoto an. Sie sah nicht aus wie eine Braut, trug ein schwarzes Wickelkleid aus feinem Stoff und ein Tuch um den Hals. In ihrem siebten Ehejahr bekam sie Schwindsucht und starb. Was für eine exquisite Krankheit. Wir bügelten die Schwindsucht, die Kriege, Japan, Russland, Frankreich, lange Seereisen und Reisen mit der Eisenbahn in die Taschentücher unserer Väter. Sie trugen sie in ihrer Hosentasche ins Büro. Am Abend kehrten sie mit ihnen nach Hause zurück.



Dieses Buch über Walzengravur und Schablonenherstellung im Textildruck wurde meine Bibel: Die Hauptfiguren darin waren Muttermolette und Tochtermolette, dein tägliches Brot, die Rollen, mit denen die große Kupferrolle mechanisch graviert wurde. Die Techniker liebten es, Vorgänge auf weibliche Figuren zu projizieren und sich dabei ein bisschen wie Gott zu fühlen. Nur Gott konnte eine Mutter aus dem Nichts schaffen und gleich noch eine Tochter dazu. Der gottähnliche Graveur, du warst auch einer von denen, begann mit der Mutter, schnitt das Muster mit seinen Instrumenten in Handarbeit in sie hinein. Für die Schraffuren spannte er sie in die Schlag- und Divisiermaschinen, und wenn das Muster dann vollständig war, legte er sie zum Härten in einen Ofen. Ich malte mir aus, was für Höllenqualen die Mutter im Ofen ausstand. Die gehärtete und gefühllose Mutter kam auf den Molettierstuhl, ein weiteres Folterinstrument, und wurde gegen die noch weichere Tochtermolette gepresst und mit Säure behandelt. Mit Säure. Gegen Wörter konnte ich mich noch nie gut abgrenzen. Wörter sind wie Gift oder Medizin. Ein einzelnes Wort ist imstande, einen Wortschwall zu produzieren, der mich in völlig andere Zusammenhänge katapultiert. So ergeht es mir die ganze Zeit, ich versuche, die Wörter zusammenzuhalten, die passenden Wörter. Aber dann schleudert mich das Wort Säure in eine völlig andere Weltgegend, ich sehe von Säure verletzte Frauengesichter, weiß jedoch, dass die hier nichts zu suchen haben, dennoch sind sie da, unter dem Wort Säure, das in dem Feld von Mutter und Tochter aufgetaucht ist, und wollen gesehen werden, egal, ob sie passen oder nicht. Die Gesichter sind da, die dazugehörigen Geschichten, Fragmente, die sich in meinen Hirnregionen abgelegt haben und inzwischen vielleicht mit anderen Fragmenten sich zu neuen Geschichten verbunden haben, mit anderen Bildern, die die ursprünglichen Bilder mildern oder verschlimmern. So mäandert mein Geist durch eine Bildwelt, die mit dem ursprünglichen Kontext nichts zu tun hat. Ich lasse ihn eine Weile herumspazieren, bevor ich ihn wieder zurückhole, und versuche, ihm die andere Seite zu zeigen, erschrecke jedoch im Nachhinein, wie nah die Bilder sich sind. Säure und Druck lassen in der Tochter das Muster der Mutter als Relief erscheinen. Frauen, deren Gesichter mit Säure verbrannt wurden, sind auch gezeichnet. Der Zusammenhang ist nicht mehr wegzudenken. Nur sind die Rollen keine Menschen, sondern Eisenstücke, die im Ofen gehärtet werden. Auch die Tochterrolle kommt in den Ofen, bis sie die nötige Härte erreicht, um das Bild in die Kupferrolle einzugraben. Ein harter Kampf, den der Graveur mit Mutter, Tochter und dem Sohn, der Kupferrolle, ausficht. Ich kann mir diese Vorgänge nur als Figuren vorstellen, wie in einem antiken Drama. Es geht um Leben und Tod. Die Mutter versucht, der Tochter ihre Prägung aufzuzwingen. Die Tochter unterwirft sich und geht dennoch als Siegerin hervor. Sie prägt sich dem Bruder, der Kupferrolle, ein. Sie und der Bruder schaffen neues Leben, Bilder auf den Stoffen.

Sieben Jahre mit dem Japaner
Roman / Novelle
ALS BUCH:
Hardcover
320 Seiten
Format: k. A.
Auslieferung: ab 15. November 2021
D: 29,00 Euro A: k. A. CH: 33,00 CHF

ISBN (Print) 978-3-03867-057-5

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